Beate Rothensee
Mahnmal für die ermordeten Juden Europas
3. Rundgang
Ausführung
Die einzelnen Gräben unterscheiden sich in Tiefe, Breite und Struktur. Sie erhalten dadurch unterschiedliche Bedeutungen und werden auch beim Betrachter unterschiedliche Assoziationen wecken.
Folgende Abfolge und Anlage ist geplant:
1. Weg der Endgültigkeit
Schneise, 14 m breit, leicht abgesenkt; querliegende Granitplatten; eingraviert wird über die Länge des Weges verteilt, wieviele Menschen aus den einzelnen europäischen Ländern durch den Holocaust ums Leben kamen.
2. Weg der unüberwindlichen Trennung
Schmaler Wassergraben, 1m breit, 1,80 tief.
3. Bruchsteinweg
Graben, 9 m breit, angefüllt mit Granitbruch und Schollen, die sich übereinanderschieben.
4. Weg der Vernichtungslager
Zentrale Schneise, 24 m breit, leicht abgesenkt, polierte Granitplatten, quer über die Schneise sind in unregelmäßigen Abständen und in allen europäischen Sprachen die Namen der Vernichtungs- und Kon-zentrationslager eingraviert sowie die Zahl der dort ermordeten Menschen.
5. Abgrund
Jäh aufreißende Erdspalte, 0,70 m breit, 1,80m tief.
6. Babylon
Wasserstreifen; 19 m breit, 150 m tief. Trauermotiv (an den Wassern von Babylon saßen wir und weinten), Ort der Versenkung, der Trauer und der Stille.
7. Graben der Isolation
Nur einzeln begehbarer Graben, 1 m tief, Symbol für die Ver-einzelung und die Einsamkeit des individuellen Todes.
Nachtwirkung
Nachts ist eine Flutlichtbeleuchtung des Denkmalfeldes vorgesehen. Sie erzeugt eine kalte gespenstische Atmosphäre, die an die Kon-zentrations- und Vernichtungslager erinnert.
© VG BILD-KUNST 2009
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Die Gedenkstätte Andauernde Entscheidung widerspricht dem klassischen Genre des sich heroisch am Horizont aufrichtenden Denkmals. Es handelt sich um ein offenes Projektionsfeld, um eine auf die leere Fläche bezogene Maßnahme. Diese Maßnahme versteht sich selbst als einen chirurgischen Eingriff, der inmitten bestehender und verschwundener historischer Gebäude symbolisch die Schichten der Vergangenheit freilegt, um so den Besucher aus dem Bewußtsein des Geschehen hinaus für die andauernden Entscheidungen de Gegenwart und Zukunft zu sensibilisieren.
Das Wettbewerbsgrundstück wird mit weißen Kieseln ausgelegt und von 7 unterschiedlich breiten Schneisen aus schwarzem Granit durchschnitten. Es entsteht der Eindruck, als habe sich eine riesige todbringende Maschinerie durch das Feld gegraben und unauslöschliche Spuren und Wunden eingefräst.
Die technische, digital wirkende Ästhetik der strengen parallelen Formation soll assoziiert werden mit dem bürokratischen Verwaltungsapparat und den Massenvernichtungstechniken der Nazis. Zugleich kann sie als eine Warnung vor der Anonymität moderner Vermassung verstanden werden, als Warnung vor der Gefahr eines erneuten Rückschlags der aufgeklärten Gesellschaft in Barbarei, wie ihn Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung prognostiziert haben.
Angesicht des riesigen schwarz-weißen Feldes wird der Betrachter zurückgeworfen auf seine eigene ethische Grundhaltung, auf den digitalen Dualismus von Ja oder Nein und auf sein Recht und seine Möglichkeit Ja oder Nein zu sagen, zu dem, was in seiner Welt tagtäglich geschieht.
Verstärkt werden sollen diese Wirkungen durch die symbolischen Bezüge des Denkmals: die schwarz-weiße Gesamtstruktur bezieht sich auf den Talit, den gestreiften Gebetsmantel der Rabbiner. Die 7 schwarzen Gräben verweisen auf die Zahl sieben der Kabbala. Sie bedeutet Waffe und steht als Symbol für das Abschneidende, Abtrennende und damit auch für das Scheidenden im Sinne der ethischen Entscheidung und die andauernde Entscheidung in jeder aktuellen Situation.
Die Art der Entscheidung, das, worum es bei der Entscheidung geht, wird durch die Gegensätze des Materials und der Gestaltung stets bewußt gehalten: die weißen Kiesel stehen für das Individuelle, Bewegliche, Vereinzelte und zugleich für die Gefährdung des Einzelnen. Die bleich, gebeinhafte Qualität der Kiesel und die massenhafte Anhäufung toter Steine erinnert an die Millionen ermordeter Juden des Holocausts. Der schwarze Granit dagegen steht hier für die harte, brutale, erbarmungslose Macht, die das weiße Kieselfeld brutal durchschneidet; Granit als das Synonym des Todes und als Grabstein sein Verkünder.
Die Gräben stellen durch ihre Lage eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart her. Sie nehmen ihren Ausgang dort, wo früher Führerbunker und Reichskanzlei standen, und weisen Richtung Brandenburger Tor und Reichstag. Beide Gebäude liegen in der gedachten Verlängerung der Schneisen und sind in der neuen Hauptstadt Berlin wieder Zentren politischer Entscheidung. Die Besucher, die an den Gräben entlanggehen, befinden sich so immer zwischen Vergangenheit und Zukunft oder – übertragen gesagt – zwischen Schuld und dem Auftrag aktueller und zukünftiger Versöhnung.
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